[top]
Auf den Schultern von Riesen
Die englische Sprache kennt eine, wie ich finde, ausgesprochen schöne Redewendung, die auch noch in den Rand jeder 2-Pfund-Münze in Großbritannien geprägt ist.
Sie lautet: „Standing on the shoulders of giants.“
Auf deutsch übersetzt: „auf den Schultern von Riesen stehend.“[1]
Es ist ein Gleichnis, das auf fast poetische Weise gleichzeitig Stolz und Demut zum Ausdruck bringt. Den Stolz auf die Leistungen der Vorgänger, in deren Nachfolge man steht. Und die Demut vor ihren Errungenschaften, ohne die das eigene Tun gar nicht möglich wäre. Das gilt ganz sicher auch für die Politik und auch für die Außenpolitik.
Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist der Aufbau eines geeinten Europas. Wenn man sich einmal überlegt, dass nur kurz nach den Verwüstungen des II. Weltkrieges Staatsmänner aus Frankreich, Italien, und Benelux ausgerechnet Deutschland dazu einluden, ein gemeinsames Europa aufzubauen, dann merkt man schnell, was das für „Riesen“ gewesen sein müssen. Denn es waren ja wir Deutschen, die eben noch mordend und brandschatzend durch diese Länder gezogen waren und ich vermute, dass die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder, die Idee ausgerechnet mit uns ein neues und friedliches Europa aufzubauen, nicht ohne große Zweifel und Misstrauen und vielleicht auch mit Ablehnung aufgenommen haben. Und doch gingen außenpolitische Riesen wie der Franzose Schumann oder der Italiener De Gasperi dieses Wagnis mit uns Deutschen ein, weil sie wussten, dass nur so die furchtbare Geschichte der Kriege in Europa beendet werden konnten.
Angesichts mancher europäischer Verzagtheit und Mutlosigkeit, die wir in unserer Zeit erleben, dürfen wir durchaus demütig auf das schauen, was unsere Vorgängerinnen und Vorgänger geschafft haben.
Nicht mal ein Menschenleben lang brauchte es, um aus erbitterter Feindschaft und Völkermord Partnerschaft und Freundschaft entstehen zu lassen. Und weniger als eine Generation hat es benötigt, um von Auschwitz nach Brüssel zu gelangen. Das zeigt, zu was Menschen in der Lage sind, wenn sie nur wollen. Und es zeigt, auf welch großen außenpolitischen Schultern unser heutiges Leben stehen darf.
Und zu diesen außenpolitischen Riesen gehört ganz zweifellos auch Gustav Stresemann. Zusammen mit Friedrich Ebert war er der wohl bedeutendste Staatsmann der Weimarer Republik.
Ich bedanke mich daher herzlich für die Einladung, in diesem Jahr die Stresemann-Rede halten zu dürfen. Es ist mir eine große Ehre.
Und es ist mir ein besonderes Anliegen, diese Rede dem Thema zu widmen, für das Gustav Stresemann seine ganze politische Leidenschaft einsetzte. Das Thema, für das er sich buchstäblich verzehrt hat: die deutsche Außenpolitik.
Wir leben ja längst wieder in einer Welt, in der die Beziehungen zwischen Staaten und Regionen der Welt unseren Alltag, unser Wohlergehen und die Zukunft unserer Kinder weit mehr beeinflussen, als das, was uns so im Alltäglichen der Innenpolitik umtreibt.
Wie es der historische Zufall will, fällt das Ende der Ära von Angela Merkel ja zusammen mit einer fast schon tektonischen Verschiebung der Machtachsen der Welt, die uns Europäer und damit uns Deutsche ganz besonders herausfordern wird:
Rund 600 Jahre lag Europa sozusagen im Zentrum der Welt – im Guten wie im Schlechten. Von hier aus starteten Entdeckungsreisen ebenso wie der Kolonialismus. Die Ideen der Aufklärung hatten hier ebenso ihren Ausgang wie zwei Weltkriege. Und nach der Entdeckung Amerikas wurde der Atlantik sozusagen das Gravitationszentrum der Welt. Die wichtigsten Handels- und Wirtschaftsachsen durchliefen ihn ebenso wie ihrer Folge die zentralen politischen und militärischen Machtachsen.
Und diese 600 Jahre Europazentriertheit der Welt sind nun endgültig zu Ende gegangen. Und mit ihr die Pax Americana, die fast 80 Jahre lang ganz wesentliche Grundlage erst der westlichen Weltordnung und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der globalen Weltordnung gewesen war.
- Die Mehrzahl der Menschheit lebt in Asien und in der Region Indo-Pazifik.
- Zweidrittel des Weltsozialprodukts wird demnächst dort hergestellt.
- Und schon heute existieren dort fünf Nuklearmächte mit Atomwaffen.
Das ist der Grund, warum die Vereinigten Staaten sich mehr und mehr auf diese Region konzentrieren. Denn dort liegt ihr eigentlicher Herausforderer: China.
Die USA haben schon lange den Eindruck, dass sie „imperial overtreched“ sind und nicht mehr beides schaffen: die wirtschaftlich führende Nation zu sein und die globale „liberal order“ aufrecht zu erhalten. Zu sehr werden sie längst durch den neuen globalen Akteur China herausgefordert. Auf ihn wollen sie ihre Kraft konzentrieren und ziehen sich als Konsequenz aus vielen Bereichen zurück, in denen sie bisher Verantwortung übernommen haben.
Von Amerika als „pazifischer Nation“ haben schon mehrere Präsidenten gesprochen. Der erste war George W. Bush. Joe Biden dürfte der erste US-Präsident sein, der diese Hinwendung zum Indo-Pazifik auch ganz praktisch in seiner Außen- und Wirtschaftspolitik vollzieht.
Für Europa hat das dramatische Konsequenzen, wie wir gerade erst an dem uns völlig überfordernden Abzug aus Afghanistan erleben durften. Vor allem aber entsteht dort, wo sich die USA zurückziehen, ja kein Vakuum, sondern wo jemand den Raum verlässt, treten andere hinein. Im Nahen und Mittleren Osten sind das derzeit Russland, die Türkei, China, der Iran und eine ganze Reihe anderer autoritärer Staaten. Das demokratische Europa dagegen ist weitgehend Zuschauer und gerät schon durcheinander, wenn ein Despot in Weissrussland mit Duldung seines großen Bruders versucht, die Europäische Union durch organisierten Menschenhandel mit ein paar tausend Flüchtlingen unter Druck zu setzen.
Gewiss wird es innenpolitisch auch viel zu tun geben für eine neue Bundesregierung. Die drei großen „D“ dürften dabei im Mittelpunkt der Regierungspolitik stehen:
- Demografie
- Digitalisierung
- Decarbonisierung.
Aber so bedeutend diese innenpolitischen Themen auch sein werden, so sehr wird die deutsche Regierung vor allem außen- und europapolitisch herausgefordert sein.
Der zurückliegende Bundestagswahlkampf hat dabei gezeigt, dass wir darauf wenig vorbereitet scheinen. Denn die Welt oder gar Europa hat dabei keine Rolle gespielt. Und dass nicht nur, weil die Parteien und Kandidaten darüber nicht gestritten haben, sondern auch die Journalistinnen und Journalisten haben sie nicht mal danach gefragt. Es liegt wohl daran, dass wir Deutschen insgesamt die Welt immer noch eher aus dem Augenwinkel wahrnehmen, als sie in die Mitte unserer Perspektive zu stellen. Zu gut waren die letzten zwei bis drei Jahrzehnte. Denn Deutschland war und ist der große Gewinner der Globalisierung. Wir beziehen Rohstoffe aus allen Kontinenten, haben Fertigungsstätten überall auf der Welt, beziehen Komponenten aus anderen Ländern und haben High End Produktion bei uns zu Hause. Wir sind die Industriealisierer der Welt. Das ist sozusagen unser Wohlstandsmodell. Und genau das droht gerade massiv unter Druck zu geraten.
Denn was wir gerade erleben, ist die Rückkehr der Geopolitik. In den letzten 30 Jahren stand die Geoökonomie im Vordergrund. Das Ziel war ja gerade, die politischen Einflüsse der einzelnen Nationen und Regionen zurück zu drängen, damit die weltweiten Waren- und Gütermärkte möglichst ohne Einschränkungen ihre ökonomische Wirkungsmacht entfalten können. Der Schlachtruf der Globalisierung war: Öffnet die Grenzen – für Kapital, für Daten, für Waren und Dienstleistungen und auch für Menschen.
Was wir jetzt erleben, ist eine Art Gegenbewegung. Nach der Öffnung der Grenzen, fragen nun zunehmend Menschen danach, wo eigentlich die Grenze der Öffnung liegt? Mehr noch: Zur Rückgewinnung von politischem Einfluß und von Macht sind Menschen und Staaten sogar bereit, wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen.
- Der Brexit ist ein Beispiel dafür. „Take back control“, war dort der Schlachtruf.
- Und auch in den USA haben Millionen Menschen Donald Trump gewählt, obwohl er ihnen mit seiner Ablehnung einer Krankenversicherung richtig wirtschaftlichen und sozialen Schaden zugefügt hat.
- Die USA hat eine sehr enge wirtschaftliche Verzahnung mit China. Die amerikanische Wirtschaft profitiert enorm davon. Und trotzdem fahren Demokraten und Republikaner einen harten Entkoppelungskurs.
- Oder nehmen Sie Russland, das inzwischen jede Sanktionsdrohung als eine Art „Großmachtsteuer“ hinnimmt, die man eben zahlen muss, wenn man den eigenen Einfluß in der Welt vergrößern will.
Die Geopolitik – also der Versuch, an der Neuordnung der Welt im 21. Jahrhundert bestimmend teilzunehmen – ist zurück und schlägt sogar die ökonomischen Interessen. Denn darum geht es gerade: um die Neuordnung der Welt nach dem die Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkrieges mit etwas Verspätung verschwindet.
Derzeit leben wir nicht in einer Welt der UN-Konferenzen oder der G 20 oder der G 7, sondern eher in einer G-Null Welt, wie der amerikanische Publizist Ian Bremmer es nennt. Eine Welt ohne globale Ordnung, in der aber um eine neue Ordnung gerungen wird.
Nichts macht das deutlicher als die Pandemie:
- Finanzkrise 2008
- Pandemie (11 Milliarden Impfdosen fehlen)
Wenn unser Wohlstandsmodell also bisher vor allem auf offene Märkte und dem Vorrang der Geoökonomie beruht hat, dann ist die Rückkehr der Geopolitik für uns Europäer und Deutsche eine besondere Herausforderung. Denn bislang jedenfalls war die EU dafür gegründet, dass wir uns raushalten aus der Welt. Dafür hatten wir ein bisschen die Franzosen und Briten als Mitglieder im UN Sicherheitsrat, vor allem aber die Amerikaner. Und die orientieren sich jetzt neu.
Außenpolitik bekommt also eine neue Bedeutung – und das vor allem im europäischen Rahmen. Denn so groß und bedeutend Deutschland auch ist, am Ende hatte Henry Kissinger recht als er sagte: Die Deutschen haben echt ein Problem: sie sind zu groß für Europa und zu klein für die Welt. Nicht zuletzt deshalb gilt auch für die deutsche Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts die wichtigste Lehre des 20. Jahrhunderts: nie wieder allein! Sondern immer im europäischen Kontext. Allerdings brauchen wir dafür auch im eigenen Land den Mut zur realistischen Standortbestimmung, zur selbstkritischen Analyse und zur kontroversen öffentlichen Debatte. Vor allem brauchen wir den Mut zur Strategie!
Und damit sind wir wieder bei
Stresemanns Außenpolitik.
Denn Gustav Stresemann hatte seinerzeit diesen Mut. Natürlich unter anderen Voraussetzungen: Berlin ist nicht Weimar, um ein Wort des Schweizer Journalisten Fritz René Allemann aufzugreifen[2]. Aber trotzdem ist der Blick auf die Ära Stresemann ungemein wertvoll: Denn Stresemann war entschlossen, die Balance der deutschen Außenpolitik neu zu justieren. Das war ein politisches Kernziel in einer neuartigen Koalition der Mitte. Vor allem aber hatte er Mut, weil er seine außenpolitischen Zielsetzungen nicht den innenpolitischen Erwartungshaltungen unterworfen hat. Das kann man von Stresemann wirklich lernen: dass Außenpolitik zwar natürlich den nationalen Interessen eines Landes folgt, dass sie aber nie nur reiner Reflex der Innenpolitik sein darf. Wer die Außenpolitik im Wesentlichen als Ableitung innenpolitischer Demarkationslinien versteht, der verspielt den Spielraum, den die Außenpolitik und die Diplomatie braucht, um Verständigungen zu erzielen. Denn die wesentliche Voraussetzung für die Außenpolitik ist ja, sich zuerst einmal in die Schuhe des anderen zu stellen. Nicht um dessen Haltung zu übernehmen, aber um zu verstehen, warum Verhandlungspartner andere Interessen, Erfahrungen und Ziele verfolgen als man selbst sie für richtig hält. Erst aus dem gegenseitigen Verstehen und Respektieren des anderen erwächst außenpolitischer Spielraum für Verständigung.
Stresemann wollte nicht länger Ideologie und Wunschdenken zur Grundlage seiner Politik machen – den post-imperialistischen Phantomschmerz des Deutschen Kaiserreichs. Statt politische Lebenslügen fortzuschreiben, wagte er eine vorbehaltlose, realistische Analyse der außenpolitischen Lage Deutschlands – auch und gerade wenn dies der innenpolitischen Debattenlage widersprach.
Für ihn ging es darum, die Verhältnisse anzuerkennen – sich aber nicht mit ihnen abzufinden.
Für Stresemann war es vor allem der mörderische Antagonismus mit dem vermeintlichen „Erbfeind“ Frankreich, der Fortschritte für die deutsche Außenpolitik so fatal verbaute. Der Außenminister wagte mit einem neuen strategischen Gesamtkonzept der „Verständigungspolitik“ einen unerhörten Paradigmenwechsel: Statt auf Konfrontation und Krieg setzte er auf Verträge und Verständigung, auf den „Frieden am Rhein“. Nicht mehr und Panzer und Pickelhaube sollten Deutschlands Stellung als Großmacht in Europa durchsetzen. Sondern seine enorme wirtschaftliche Stärke. Dabei wusste Stresemann durchaus Idealismus und Interesse zu verbinden: Natürlich ging es ihm um den Frieden mit Frankreich und um die Zusammenarbeit in Europa. Aber es ging ihm nicht zuletzt auch darum, die negativen Folgen des Weltkrieges für Deutschland so weit wie möglich zu revidieren. Im Kern bedeuteten diese Pläne übrigens durchaus auch die Revision der deutschen Ostgrenze zulasten Polens. Ein Teil der Stresemannschen Außenpolitik, den wir gerade nach den Erfahrungen der antipolnischen Politik der Weimarer Republik und des Zweiten Weltkrieges heute sicher sehr kritisch beurteilen müssen.
Sein Blick richtete sich nach Westen, weil er dort zurecht in der Aussöhnung mit Frankreich die eigentliche Bedingung für Frieden und die wirtschaftliche Erholung Deutschlands sah. Stresemann war einen langen politischen Weg gegangen – Vom stramm nationalistischen „Falken“ im Kaiserreich hin zum sogenannten „Vernunftrepublikaner“ in der deutschen Demokratie. Ihm gelang es so, über den politischen Tellerrand seiner eigenen nationalen Position hinwegzusehen – anders als so viele seiner Zeitgenossen. Stattdessen bezog er die Blickweise seiner französischen Partner in seine Verständigungspolitik konsequent mit ein. Damals war das vor allem Frankreichs Bedürfnis nach Sicherheit – nach zwei deutschen Invasionen innerhalb weniger Jahrzehnte. Der Bruch mit dem säbelrasselnden Wilhelminismus eröffnete schließlich neue Wege – hin zu den Verträgen von Locarno und zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund.
Es war dieser Mut zur Gestaltung, gegen den Hass und die Hetze des politischen Chauvinismus, der ihm die höchste Ehre einbrachte: 1926 wurde Gustav Stresemann der Friedensnobelpreis verliehen, zusammen mit seinem französischen Amtskollegen, Aristide Briand.
Dieser Mut machte Gustav Stresemann zu einem politischen Riesen der deutschen Geschichte.
Fast 100 Jahre später wird die nächste Bundesregierung diesen Mut dringend benötigen.
Welt im Wandel – Deutschland
Diese Weltordnung im Wandel ist für uns denkbar unbequem geworden.
Deutschland und Europa wirken außenpolitisch wie aus dem Nest gefallen – und auf dem harten Boden der Realpolitik gelandet. Wo bei uns häufig von „wertegeleiteter Außenpolitik“ die Rede ist, geht es um uns herum längst wieder um harte Interessenpolitik – um politische Dominanz, um ökonomische Ressourcen, und auch um militärische Kontrolle.
Das sind alles Disziplinen, die nicht unbedingt zu den Kernkompetenzen Europas gehören.
Das mag sympathisch sein. Aber es wird uns im nächsten Jahrzehnt leider nicht unbedingt weiterhelfen, wenn es um die Wahrung unserer eigenen Interessen geht. Denn Sympathie ist nicht die Währung, in der gezahlt wird, wenn sich die unmittelbare Nachbarschaft Europas strategisch neu sortiert.
Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht als Vegetarier in einer Welt voller Fleischfresser wiederfinden!
Der US-chinesische Antagonismus bedeutet für die deutsche Außenpolitik schmerzhafte Interessenkonflikte: Die USA bleiben der wichtigste Verbündete Deutschlands, der nicht zuletzt für unsere Sicherheit garantiert. China hingegen ist seit Jahren der wichtigste Handelspartner Deutschlands – eine Art „frenemy“, also politischer Gegner auf der einen Seite und ökonomischer Partner auf der anderen. Längst sind viele deutsche Branchen und Unternehmen abhängig von dem riesigen Markt im Reich der Mitte, der von der chinesischen KP noch immer rigoros politisch gesteuert wird.
Dieses Dilemma wird sich weiter zuspitzen – denn es wächst der Druck auf uns, zwischen den Großmächten zu wählen.
„Decoupling“ ist das Schlagwort. Es beschreibt die Idee einer weitgehenden Entkopplung zwischen den USA und China– ökonomisch und vor allem im Bereich der Technologie.
Für die maximal globalisierte deutsche Exportwirtschaft wäre das der worst case.
Welt im Wandel – Europa
Genug Gründe also, um sich einzumischen. Nicht nur für die deutsche Außenpolitik, sondern vor allem für eine zu entwickelnde europäische Außenpolitik. Den Anspruch, ein geopolitischer Machtfaktor zu sein oder wenigstens zu werden, hat niemand so offensiv formuliert wie die derzeitige EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Wenn wir ehrlich sind, dann sind die Fortschritte dabei allerdings überschaubar – auch wenn jetzt wieder der Ruf nach mehr europäischer Souveränität laut wird. Am deutlichsten wird dies, wenn über die europäische Verteidigungspolitik diskutiert wird. Man findet kaum jemanden, der nicht als Gipfelpunkt Europas die Notwendigkeit einer europäischen Armee formuliert. Ein bisschen klingt das allerdings so, als wollten die Europäer immer gleich im Master-Golf-Turnier mitspielen, obwohl sie bislang nicht mal im Mini-Golf Erfolge zu verzeichnen haben. Auch hier gilt es für Europa, die Lücke zwischen Anspruch und Realität zu schließen. Um mal ein Beispiel zu nennen: bevor man große Pläne für eine europäische Armee schmiedet, wäre es ganz hilfreich, wenn z.B. der Deutsche Bundestag das Freihandelsabkommen mit Kanada ratifizieren würde, das seit 5 Jahren von der EU mit Kanada verabschiedet wurde. Mit wirklich fadenscheinigen ideologischen Gründen halten SPD, Grüne und Linke die Europäische Union seit 5 Jahren darin auf, mit einem Land ein Handelsabkommen zu schließen, das europäischer ist als mancher europäischer Mitgliedsstaat.
Europa wird nicht über Nacht zur globalen Hard-Power, sondern seine eigentliche globale Attraktivität liegt natürlich in der Bedeutung seines Binnenmarktes und der daraus erwachsenen Soft-Power. Europa wird dann ein ernstzunehmender global Player bei der Neuordnung der Welt, wenn es seine Stärken weiter ausbaut:
- seinen Binnenmarkt vertieft,
- seine Währung wetterfest macht
- den Green Deal dazu nutzt, seine Infrastruktur zu modernisieren
- und wenn es beginnt, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickelt, die übrigens Voraussetzung jedes gemeinsamen militärischen Fähigkeitsaufbaus wäre.
Frankreichs Präsident Macron hat wie ich finde dafür einen ausgezeichneten Vorschlag gemacht, nämlich einen europäischen Sicherheitsrat zu bilden, der gewiss mehr Sinn machen würde, als die derzeit mal wieder diskutierte Idee eines nationalen Sicherheitsrats in Deutschland. Nur mit einem stärkeren Europa werden wir bei der anstehenden Neuordnung der Welt eine Rolle spielen. Gelingt uns das nicht, werden wir mit einer G 2 Welt konfrontiert sein, in der die zwei großen Antipoden USA und China die Spielregeln vorgeben. Nur ein einigeres Europa wird daraus wenigstens eine G 3 Welt machen können.
Dafür werden wir ein bisschen des Mutes brauchen, den uns die anfangs zitierten Riesen der Außenpolitik gezeigt haben. Im Ausland traut man uns das derzeit eher nicht zu. Zum Ende der Ära Merkel schrieb die „New York Times“:
„Angela Merkels Abgang lässt ein Land zurück, das sich nachweislich verändert hat – und nun ängstlich weiteren Veränderungen entgegenblickt.“
Ich halte das für eine zutreffende Beobachtung, was aber nur darauf hinweist, dass wir hierzulande vor allem vor einer großen politischen Führungsaufgabe stehen, denn dem Wunsch vieler Deutscher, doch am liebsten so zu sein wie die Schweiz – wirtschaftlich erfolgreich und politisch neutral – werden wir nicht nachgeben dürfen. Es wäre das Ende Europas, denn was für uns „neutral“ heißt, empfinden unsere Nachbarn als unberechenbar.
Der Blick auf Gustav Stresemann und sein politisches Lebenswerk sollte uns für diese Zukunft motivieren:
Wir müssen nicht gleich den Friedensnobelpreis in den Blick nehmen – aber wir sollten uns vergewissern, was die Voraussetzungen für eine anspruchsvolle deutsche Außenpolitik sind.
Nämlich:
- Realismus und Ambition angesichts einer veränderten weltpolitischen Gesamtlage,
- politische Empathie und der Mut zur Reform,
- eine kluge Balance zwischen Idealen und Interessen,
- strategischer Weitblick und die Bereitschaft zum Paradigmenwechsel.
- Und nicht zuletzt die Bereitschaft uns in die Lage unserer Partner und Nachbarn zu versetzen und nie zu vergessen, dass Geschichte und Geografie den Blick der Völker auf die Gegenwart prägt und dass deshalb mancher unserer Nachbarn anders auf uns blicken als wir selbst es tun,
Von Gustav Stresemann sollten wir vor allem eines mitnehmen für die zukünftige deutsche Außenpolitik: den Mut zur Gestaltung.
Denn wir dürfen uns nicht darauf beschränken, der Welt zu erklären, was wir alles NICHT wollen.
Stresemann & Brandt
Nur zwei deutsche Staatsleute sind bis heute mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden.[3] Mit dem einen habe ich diese Rede begonnen – dem Namensgeber Gustav Stresemann. Mit dem anderen möchte ich sie beschließen – mit Willy Brandt. Vor fast genau 50 Jahren, im Oktober 1971 wurde er für seine Ostpolitik, für die Strategie eines „Wandels durch Annäherung“ ausgezeichnet.
(Übrigens steht das „Willy-Brandt-Haus“ in Berlin heute tatsächlich in der „Stresemannstraße“[4]. Vielleicht doch mehr als ein Zufall…)
Brandt hat einmal über die deutsche Außenpolitik gesagt: „Die Bundesrepublik kann natürlich nicht das machen, was man einen „toten Käfer“ nennt. Weniger volkstümlich ausgedrückt: Sie darf nicht den Anschein erwecken, als habe sie keine eigenen Interessen und keinen eigenen Willen.“ (1968)
Brandt hat nach dieser Einsicht gehandelt, so wie Stresemann vor ihm. Ich bin überzeugt: Wir sollten nach dieser Prämisse auch die Außenpolitik Deutschlands für dieses Jahrzehnt gestalten.
Es mag dort oben ein scharfer Wind wehen und gewiss sollten wir schwindelfrei sein – aber stellen wir uns auf die Schultern von Riesen!
[1] Angeblich geht der Ausspruch auf Isaac Newton zurück.
[2] Allemann, Fritz René (1956): Bonn ist nicht Weimar.
[3] Ludwig Quidde (1927) und Carl von Ossietzky (1935) bekleideten keine Staatsämter.
[4] Die Post-Adresse ist freilich „Wilhelmstr.“.
(Hervorhebungen aus dem Redemanuskript)
Diese Rede wurde von Sigmar Gabriel am 12. November 2021 vor den Gästen der Stresemann-Gesellschaft im Festsaal der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz in Mainz gehalten.