Gustav Stresemann

*10.5.1878 Berlin, †3.10.1929 Berlin

BArch146-1989-040-27, o. Ang.

Gustav Stresemann war der bedeutendste Politiker der Weimarer Republik und einer der großen Staatsmänner der deutschen Geschichte. Während seines gesellschaftlichen Aufstiegs bewies er als Verbandsvertreter und Parteipolitiker Organisations- und Leitungstalent. Als leidenschaftlicher Parlamentarier verknüpfte er Politik und Interessen mit rhetorischer und publizistischer Begabung. Als Außenminister verband Stresemann nationale Interessen mit internationaler Kooperation. Im französischen Außenminister Aristide Briand fand er den Partner der deutsch-französischen Verständigungspolitik, in der die Möglichkeiten einer friedlichen Entwicklung in Europa angelegt waren. In der Weltöffentlichkeit fand Stresemann Anerkennung durch die Verleihung des Friedensnobelpreises. Seinen letzten großen Erfolg, die von ihm verhandelte vorzeitige Räumung des Rheinlandes, erlebte er nicht mehr. Neun Monate zuvor verstarb er an einem Schlaganfall. Mainzer Bürger bauten ihm zu Ehren ein Denkmal. Es ist der Grundstein der Stresemann-Gesellschaft und ihres zeitlosen Bemühens, an seine Verständigungspolitik zu erinnern und sie in unsere Zeit zu übersetzen.

Die folgende Kurzbiografie schrieb Dr. Wolfgang Elz. Der Mainzer Historiker forscht zur Geschichte der internationalen Beziehungen und zur Außenpolitik der Weimarer Republik.

Gesellschaftlicher Aufstieg

Wer war Gustav Stresemann? 1878 in Berlin in kleinbürgerliche Verhältnisse geboren, absolvierte er ein Wirtschaftsstudium, das er 1901 mit der Promotion abschloss. Anschließend arbeitete er in Dresden in Wirtschaftsverbänden, betätigte sich bald in der Verbandspolitik und wurde früh Mitglied der Nationalliberalen Partei. Bereits 1907 wurde er als damals jüngster Abgeordneter in den Reichstag gewählt. In der Parteihierarchie stieg er rasch auf. Seine Ziele im Ersten Weltkrieg – ein deutscher Siegfrieden und weitreichende Annexionen – wurden zwar von vielen geteilt, erwiesen sich nach der Niederlage 1918 aber als vorläufiges Hemmnis für seine weitere Karriere. In der Öffentlichkeit wurde allerdings lange übersehen, dass er bereits früh zu den Kritikern des wilhelminischen Systems gehört und den Umbau hin zu einer parlamentarischen Monarchie gefordert hatte.

Realpolitiker: Vom Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei zum Reichskanzler

Stresemann: Mitglied des Reichstages / BArch 146-2013-0091, o. Ang.

1918 wurde Stresemann Mitgründer und Vorsitzender der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei, mit der er der Republik anfangs kritisch gegenüberstand. Aber nach und nach akzeptierte er die Republik, auch wenn er seine Partei nur mühsam von diesem Weg überzeugen konnte. Erhalten blieb seine eher nostalgische Verbundenheit mit dem zurückliegenden Kaiserreich, die aber seine Politik nie wesentlich beeinflusste. Stattdessen setzte er auf breite Zusammenarbeit von den linken Sozialdemokraten bis zu den damals noch gemäßigten Deutschnationalen, um auch innere Gegensätze auszugleichen.

Seine Stunde schlug 1923: In der völlig verfahrenen Situation nach der französisch-belgischen Ruhrgebietsbesetzung und dem deutschen passiven Widerstand stand der Fortbestand der Republik auf dem Spiel. Er wurde Reichskanzler einer großen Koalition. Nach dem Abbruch des passiven Widerstands gelang es mit erheblichem Geschick und Glück sowohl die Hyperinflation beizulegen als auch kommunistische Aufstandspläne in Mitteldeutschland zu unterdrücken sowie den dilettantischen Hitlerputsch in München zu überstehen.

Neuanfang als Außenminister

Im Folgejahr, inzwischen als Kanzler gestürzt, aber als Außenminister in den wechselnden Koalitionen bis zu seinem Lebensende, gelang ein Neuanfang insbesondere in der Außenpolitik. Die Weltkriegssieger zeigten sich 1924 bereit, mit dem Dawes-Plan ein neues Zahlungsmodell für die belastende Reparationsfrage zu entwickeln, das Deutschland wirtschaftlich ein wenig Luft verschaffte. Schon hier praktizierte Stresemann seine zwischenzeitlich gewachsene Erkenntnis: Stresemanns Verhandlungen zielten auf die Revision des Versailler Vertrags. Dieses Ziel teilte er mit praktisch allen Politikern der Weimarer Republik. Aber die Überwindung des auch innenpolitisch vergiftenden Hasses gegenüber dem Ausland konnte eben nur in der friedlichen Zusammenarbeit mit den Siegern gelingen. Dazu waren Verhandlungen notwendig, die auch die Interessen dieser Sieger in die eigenen Überlegungen einbezogen.

Auf dem Weg nach Locarno

Beratungen der Außenminister in Locarno 1925: Dr. Stresemann, Chamberlain Briand (v.l.) / BArch183-R03618, o. Ang.

Dies gelang 1925: Zwar wollte Frankreich aus Angst um seine Sicherheit Deutschland klein halten. Doch um aus dieser außenpolitischen Sackgasse herauszukommen, schlug Stresemann London und Paris einen Sicherheitspakt vor. Die deutsch-französische und die deutsch-belgische Grenze sollten nicht gewaltsam verändert werden dürfen, und Großbritannien würde als Garant gegen jeden militärischen Übergriff der Nachbarn den Pakt unterzeichnen. Nach zähen Verhandlungen kam es im Oktober 1925 in Locarno zur Unterzeichnung entsprechender Verträge.

Stresemanns Hoffnung war, dass das von den Siegern besetzte linksrheinische Gebiet in der Folge früher von den Besatzern geräumt würde, als im Versailler Vertrag vorgesehen. Ein erster Erfolg war die Räumung der nördlichen Besatzungszone sowie des besetzten Ruhrgebiets. 1926 wurde Deutschland dann in den Völkerbund aufgenommen, was ihm zuvor versperrt gewesen war. Damit war der Großmachtstatus wieder zuerkannt. Mit dem Wirtschaftsaufschwung durch den Dawes-Plan und amerikanischen Investitionen setzte jene Phase ein, die den Eindruck von den „Goldenen Zwanzigern“ entstehen ließ.

Friedensnobelpreis zusammen mit Aristide Briand

1926 wurde Stresemann als erstem Deutschen zusammen mit seinem kongenialen französischen Kollegen Aristide Briand der Friedensnobelpreis verliehen, und die deutsch-französische Verständigung wurde so auch international gewürdigt. Aber die Erfolge seiner Verständigungspolitik setzten nur langsam ein, so dass Stresemann sie innenpolitisch und auch in der eigenen Partei stets verteidigen musste – ganz ähnlich wie Briand in Frankreich, der allenfalls in kleinen Schritten Zugeständnisse machen konnte. Diese Kämpfe gegen Zauderer und Unzufriedene standen im Gegensatz zum internationalen Ansehen, das Deutschland dank Stresemann nun zunehmend gewann. So wirkte Deutschland 1928 entscheidend am Zustandekommen des internationalen Briand-Kellogg-Paktes mit. Darin ächteten 63 Staaten – fast die gesamte damalige Welt – völkerrechtlich den Krieg.

Rheinland-Räumung nicht mehr erlebt

Medaille zur vorzeitigen Rheinlandräumung / H. Werner, 2022

Gustav Stresemann konnte noch eine erneute Revision der Reparationsfrage mit dem Young-Plan von 1929 erreichen, und fast zeitgleich wurde beschlossen, dass das Rheinland bereits 1930 und damit fünf Jahre vor der ursprünglichen Terminierung des Versailler Vertrags geräumt würde.

Die Rheinlandräumung erlebte Stresemann jedoch nicht mehr: Gesundheitlich sehr angegriffen und in diesen entscheidenden Monaten aufgerieben durch die innen- wie außenpolitischen Konflikte starb er am 3. Oktober 1929. Hunderttausende säumten wenige Tage später den Trauerzug durch Berlin und zeigten so, dass ihnen Gustav Stresemanns überragende Bedeutung für Deutschland bewusst war.

Was Stresemann heute für uns bedeutet

Stresemann vor dem Völkerbund, 8. September 1926 / BArch 146-1988-101-12, o. Ang.

Welche Bedeutung hat Stresemann heute noch, und welchen Prinzipien fühlt sich die Stresemann-Gesellschaft verpflichtet? Ganz grundsätzlich mag sein Beispiel für die Erkenntnis dienen, dass ein Staat nur prosperieren kann, wenn er im internationalen Kontext nicht auf militärische Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele, sondern auf Verhandlungen setzt. Gewiss hatte Stresemann als Kind seiner Zeit stets nationale Interessen im Auge – aber auf der Grundlage der Überzeugung, dass man dabei die Interessen der anderen mitberücksichtigen müsse. Der Verzicht auf Maximalforderungen führte als eine Außenpolitik der kleinen Schritte zum Ziel.

Stresemann war kein Politiker der europäischen Einigung in unserem heutigen Sinne; aber vor allem gegen Ende seines Lebens hat er Ansätze einer solchen Integration als Vision durchaus gutgeheißen. Seine Verständigungspolitik insbesondere gegenüber Frankreich war für seine Zeit außergewöhnlich. Die Politiker einer späteren Generation konnten gut zwanzig Jahre nach seinem Tod darauf aufbauen.

Literaturempfehlungen:
Birkelund, John P.: Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann. Eine Biografie. Hamburg 2003.
Hirsch, Felix: Stresemann – Patriot und Europäer. Göttingen, Frankfurt a.M., Zürich 1964.
Kolb, Eberhard: Gustav Stresemann. München 2003.
Pohl, Karl Heinrich: Gustav Stresemann. Biografie eines Grenzgängers. Göttingen 2015.
Stresemann, Wolfgang: Mein Vater Gustav Stresemann. München, Berlin 1979.
Wright, Jonathan R. C.: Gustav Stresemann. Weimar’s greatest statesman. Oxford 2002.